Durch Bildung hin zu Gott zurück
Johann Amos Comenius – Erfinder der „Pädagogik vom Kinde aus“
Von Alexander Brüggemann
Die Stationen seines Lebens liegen über ganz Nordeuropa verstreut: Mähren, Deutschland, Polen, England, Schweden, Ungarn, die Niederlande. Er war ein Kind jenes Dreißigjährigen Krieges, der Europa verwüstete und entvölkerte. Doch Jan Amos Komensky, lateinisch Johann Amos Comenius, wurde nicht müde, die Welt durch Bildung und Gottesfurcht ein Stück besser zu machen. [...] Am 28. März 1592, wurde er im ostmährischen Nivnice bei Uhersky Brod geboren.
Seine Eltern gehören den Böhmischen Brüdern an, einer evangelischen Freikirche in der Tradition gemäßigter Hussiten. Die Böhmischen Brüder zeichnen sich durch strenge Zucht aus. Ihr Anspruch ist ein (vor allem pädagogisches) Wirken in der Welt.
Komensky studiert 1611 bis 1614 calvinistische Theologie in Herborn und Heidelberg. In der Folge wird er Schulleiter in seiner Heimat; er wird zum
Prediger ordiniert und heiratet. Das Predigtamt ist zwar an die Ordination gebunden, aber unentgeltlich – weshalb sich der Prediger seinen Lebensunterhalt größtenteils als Lehrer oder Leiter an den Schulen der Unität verdient.
Komenskys angehende Karriere wird nach 1618 durch den Dreißigjährigen Krieg in Unruhe gebracht. Nach der Schlacht am Weißen Berg 1620 beginnt die Rekatholisierung Böhmens und Mährens; Protestanten – und damit auch die Brüderunität – werden verfolgt. Komenskys Vertreibung folgen Aufenthalte an wechselnden, teils geheimen Orten. Seine Frau und die beiden Söhne verliert er 1622 an die Pest, geht 1624 eine zweite Ehe ein.
1628 emigriert er ins polnische Lissa, die Exilstadt der Böhmischen Brüder.
Nun kehrt eine Phase relativer Ruhe und Produktivität ein. Hier im weltoffenen Lissa, dem Zentrum der Brüderunität, spielt Komensky eine wichtige Rolle als Lehrer an der höheren Schule. Theoretisch wie praktisch beschäftigt er sich mit Grundfragen des Sprachunterrichts. Der Kriegseintritt des Schwedenkönigs Gustav II. Adolf scheint zunächst die Hoffnungen und Vorhersagen eines protestantischen Sieges zu bestätigen – bis zu dessen Schlachtentod bei Lützen 1632.
Komensky bleibt in Lissa, entscheidet sich aber, fortan in lateinischer Sprache zu veröffentlichen, um einen größeren Leserkreis zu erreichen. Rasch findet er international Aufmerksamkeit. 1636 wird er Rektor des örtlichen Gymnasiums und verfasst erste wichtige pädagogische und pansophische Schriften, vor allem seine „Didactica magna“.
1641 reist Comenius nach London, wo ihm günstige Bedingungen zur Erarbeitung seiner Pansophie versprochen werden. Er wird als großer Gelehrter empfangen und bekommt das Angebot, an einer grundlegenden Reform der Volksbildung mitzuarbeiten. Eine praktische Realisierung seiner Pläne! Dafür lehnt er das Angebot Kardinal Richelieus zur Leitung einer künftigen pansophischen Schule in Frankreich ab. Doch das englische Engagement scheitert am Ausbruch der Revolution.
Im Juni 1642 zieht Comenius also weiter nach Schweden. Auf der Durchreise trifft er mit dem Philosophen und Rationalisten Rene Descartes (1596-1650) zusammen, der Comenius‘ Prämisse einer Verbindung von Vernunft und Offenbarung ablehnt. In Stockholm tritt er in den Dienst von Kanzler Axel Oxenstierna – der freilich deutlich mehr Interesse an (praktisch verwertbaren) Schulschriften für Schweden hat als an Comenius‘ Konzept der Pansophie.
Von 1642 bis 1648 lebt der mährische Weltbürger in der von Schweden eroberten Hansestadt Elbing im Ermland. Daneben unternimmt er diplomatische Missionen für Schweden und für die Böhmische Brüderunität. Erst nach dem Krieg kehrt Comenius nach Lissa zurück, wo sich die Ereignisse überschlagen. Schon bald nach dem Tod seiner zweiten Frau geht er im Mai 1649 eine dritte Ehe ein. Zudem wird Comenius (letzter) Bischof der Brüdergemeine. Diese wird unterdessen im Westfälischen Frieden nicht berücksichtigt und muss alle kirchenpolitische Hoffnung begraben. Ihre Existenzgrundlage als Konfession neben Luthertum und Calvinismus ist endgültig verloren. Fortbestehen wird sie bis heute in kleinen Einzelgemeinden, unter anderen in der Herrnhuter Brüdergemeine.
1650 bis 1654 steht Comenius in Ungarn im Dienst des Fürsten Sigismund Rakoczi. Sein Plan, die Errichtung einer pansophischen Schule, scheitert je
doch. Allerdings entsteht in jener Zeit eines seiner pädagogischen Hauptwerke, der „Orbis pictus“ („Die sichtbare Welt in Bildern“). Dann wieder Lissa. Polen hatte seinen religiösen Toleranzkurs aufgegeben. Auch Comenius forderte den schwedischen König Karl X. zur Besetzung Polens auf – denn die Lissaer erhofften sich von einer Schwächung des katholischen Königshauses eine Stärkung des Protestantismus in Polen.
Doch der Schuss ging buchstäblich nach hinten los. Bei der letztlichen polnischen Rückeroberung im Zweiten Schwedisch-Polnischen Krieg wird Lissa 1656 zerstört. Comenius verliert all seine Habe, seine Bücher und Manuskripte. Die Brüderunität wird endgültig zerstreut. Comenius findet bis zu seinem Lebensende 1670 Asyl und Unterhalt in Amsterdam, bei einem alten Freund.
Die Stadt fördert die Drucklegung seiner pädagogischen Schriften, darunter die „Opera didactica omnia“ (1657 mit der 1633-38 entstandenen „Didactica magna“); die „Consultatio Catholica“ (1656/1662; unvollendet); „Ianua rerum“ (1681); „Lexicon reale pansophicum“ (unvollendet, veröffentlicht postum 1966).
Mit dem Humanismus und der Geburt der modernen Naturwissenschaften gingen seit dem 15. Jahrhundert Visionen zur menschlichen Gestaltung und Verbesserung der irdischen Welt einher. Die Zukunft scheint nun, anders als im Mittelalter, offen und gestaltbar. Zugleich erweitert sich das Weltbild: Naturgesetze werden entdeckt und die Unendlichkeit des Weltalls.
Der Aufschwung der Wissenschaft und die konfessionelle Aufspaltung führen zur Errichtung neuer Hochschulen. Die Zugehörigkeit zur religiösen
Minderheit führt die studentische Jugend oft über die Landes- und Volksgrenzen hinaus. Das barocke Bestreben, möglichst die ganze sich entfaltende Wissenschaft zu erforschen und in Form von Enzyklopädien darzustellen, bringt das (zeitlich begrenzte) Phänomen der „Vielwisser und Alleskönner“ („Polyhistoren“) hervor.
Universale Gesamtschau
Die Zusammenschau und Einheit aller Wissenschaften, inklusive der Theologie, führt zu der Leitfrage: Welchem Ziel dienen die Dinge im Gesamtplan der Schöpfung? In Comenius‘ calvinistischem Studienort Herborn entsteht die Forderung nach einer „zweiten Reformation“: der Reformation des Staates und des Ausbildungswesens. Ziel ist eine Verbesserung der menschlichen Verhältnisse („emendatio rerum humanarum“). Dies wird die Grundlage für Comenius‘ Idee von der „Pansophie“, seiner allumfassenden Weisheitslehre:
Die enzyklopädische Vielfalt des Wissens sollte zu einer universalen Gesamtschau des Schöpfungs- und Erlösungsplans Gottes genutzt werden.
Comenius, über Jahrhunderte eher als Verfasser erfolgreicher Lehr- und Schulbücher gerühmt, gilt heute als ein „Klassiker der Pädagogik“ und als Begründer der ersten geschlossenen pädagogischen Systematik, die weit über die Enzyklopädik und die pädagogischen Reformen der Zeit hinausging. Er
machte den entscheidenden Schritt von der Didaktik zu einer umfassenden, theologisch begründeten Pädagogik. Seine „Didactica Magna“ bezeichnete
Comenius als „die vollständige Kunst, alle Menschen alles rasch, angenehm und gründlich zu lehren“. Seine „goldene Regel für alle Lehrenden“: „Alles soll wo immer möglich den Sinnen vorgeführt werden.“
Ausgehend von der christlichen Anthropologie –dem Menschen als Ebenbild Gottes und als Krönung der Schöpfung – formulierte Comenius drei menschliche Grundbedürfnisse: Glaube und Gottesfurcht (religio), Sitten und Tugenden (mores) sowie Sprachen, Wissenschaft und Künste (eruditio). Alles, was außerhalb dieser drei Bedürfnisse liegt, wertet er als für das irdische und erst recht für das ewige Leben entbehrlich – etwa Schönheit, Geld, Erfolg, Kraft, Gesundheit etc.
Die Anage von Bildung, Tugend und Religiosität hält Comenius für naturgegeben; „die Natur hat nichts vergeblich getan“. Allerdings ist ein früher Beginn und also Unverdorbenheit nötig. Er will Schulen für alle – mit Gleichberechtigung der Geschlechter und ohne Rücksicht auf soziale Herkunft, Vermögen oder Stand. Da alle Menschen gleichberechtigte Ebenbilder Gottes seien, müssten auch alle Menschen in gleicher Weise unterwiesen werden. Alles andere sei ungerecht, auch gegen
Gott, der alle gleich geschaffen hat. Dieser Gedanke war revolutionär: der Beginn der naturrechtlichen Anschauung und die theoretische Grundlage
für eine allgemeine Schulpflicht.
Die Quintessenz all seiner Schulbücher, Didaktiken etc.: Gott hat uns an unseren Platz gestellt, damit wir als vernünftige, rechtschaffene und fromme Wesen an seinem Schöpfungswerk mitarbeiten. Ziel von Erziehung und Unterricht ist die Vermittlung von Weisheit, Sitten, Frömmigkeit –„Pansophie“. „Wenn nämlich alle Menschen von Grund auf über das All belehrt würden, wären sie alle wahrhaft weise, und die Welt wäre voll Ordnung, Licht und Frieden.“
Trotz seiner teils deprimierenden Lebenserfahrungen – Dreißigjähriger Krieg, Tod, Vertreibung, politische und menschliche Enttäuschungen – hat Comenius den Glauben an die Allharmonie, das Gutsein der Schöpfung, nicht verloren. Die Welt als Schöpfung enthielt für ihn die Aufforderung, den wahren tiefen Zusammenhang und damit das Dunkel aufzuhellen.
Die Schüler sollen so viel wie irgend möglich nicht aus Büchern lernen, sondern aus eigener Anschauung und eigener Praxis. Comenius vertritt die „tabula rasa“-Theorie des Aristoteles. Wer die Kunst des Lehrens beherrsche, könne in das Kind (wie auf eine Tafel) alles einschreiben, ihm alles – und in unbegrenztem Maße – einprägen.
Erziehung muss sehr früh ansetzen, denn die ersten Erfahrungen haften sehr fest und lassen sich nicht durch spätere verdrängen. Keine Macht dem Bösen! Eine der häufigsten Verirrungen sei, den Schülern vieles zugleich eintrichtern zu wollen, so etwa lateinische und griechische Grammatik zugleich, dazu Rhetorik und Poesie usw. Die Folge sei totale Verwirrung. Wegen Auswendiglernen solle niemand geschlagen werden. Was der Schüler auswendig lernen soll, muss ihm vorher verständlich dargelegt worden sein. Anschaulichkeit sind besser als Paukerei. Man muss die Kinder an Gehorsam gewöhnen. Dazu bedarf es behutsamer Lenkung und ständiger Aufsicht – ohne Schläge.
Comenius schwebt eine lernfreundliche Schule vor; hell, sauber, mit Bildern geschmückt („Licht, Luft und Sonne“). Klassenprinzip statt Einzel- oder Gruppenunterricht – Comenius dachte an 100er-Klassen. Draußen braucht es einen Spielplatz und einen Garten, damit sich die Kinder am Anblick von Bäumen und Blumen freuen können. Lernfreundliche Lehrer mit einer Vorbildfunktion, mit „väterlicher Zuneigung, Haltung und Worten“. Die Kinder seien mit Liebe zu behandeln, nach dem Motto: „bei allen aufbauen, bei niemandem niederreißen“.
Comenius arbeitet wider die „Lernschule“, also eine Überfrachtung mit Unnützem und eine Überforderung durch mehreres zugleich. In dieser „Pädagogik vom Kinde aus“, in der eigenen Anschauung, dem Erfassen mit den Sinnen scheint bereits die Montessori-Pädagogik durch. Auch die höhere Bildung für Mädchen und das Realschulwesen des 18. Jahrhunderts sind durch Comenius angebahnt. Nur wird dort das enzyklopädische Bildungsideal durch ein berufspraktisches ersetzt.
(Quelle: KNA. Ökumenische Information 12, 21. März 2017, 13-15).

